Im Frühjahr 2024 dürfen wir uns im Presse Club Hannover auf besondere Literatur freuen. Dieses Ereignis korrespondiert mit der jüngsten Verleihung des LeibnizRingHannover an das Volk der Ukraine, bei der eine junge Musikwissenschaftlerin die Rolle als Zeitzeugin übernahm: Maria Nikonova stellte bei der Festveranstaltung am 3. November 2023 erste Ideen zu ihrem Buch „Ich will kein Opfer sein!“ vor.
Im März 2022 war sie vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet. Sie arbeitet dieser Tage hochkonzentriert an ihrem Erstlingswerk. Das Buch befasst sich nach ihren Worten mit der Psychologie und der Analyse des Opfersyndroms. Es orientiere sich zwar auch an Erlebnissen, aber es sei kein autobiografisches Buch. „Ich möchte stärkere Betonung auf die allgemeinen Erscheinungsformen eines Opfersyndroms lenken“, sagt sie im Interview.
In ihrem Tagebuch, das sie parallel zum Buchprojekt weiterführt, schreibt sie Gedanken auf, um daraus zusätzliche Impulse für das Buch zu ziehen.
Seit mehr als einem Jahr durchlebt Maria einen Rollentausch. Sie verlässt die Position eines ukrainischen Flüchtlings und befindet sich in einer Art Assimilation mit ihrer neuen Heimat. Dabei ist ihre persönliche Transformation noch im Prozess, umfasst auch eine neue berufliche Ausrichtung. Die Neujustierung ihres Lebens wird durch ihr Buchprojekt vorangetrieben. Maria Nikonova gelingt es, mit ihrer Aura und durch ihre Authentizität Menschen für sich einzunehmen.
Der Kernsatz, der als Idee in ihrem Buch steckt, ist zugleich ihre neue Lebensmaxime geworden: „Wenn mein Körper in Deutschland ist, dann muss auch meine Seele hier sein“, erklärt sie im Interview. „Ich war zuerst sehr gespalten, angefüllt mit so vielen Gedanken an die Ukraine, mit einem Opfersyndrom. Ich dachte an Rückkehr in meine Heimat.“ Doch der Schritt zur Rückkehr, den viele Ukrainer vollziehen, bleibt bei Maria aus. Sie entscheidet sich für eine andere Position, verlässt ihre Komfortzone. Sie will über ihr anderes Leben schreiben und lernt sehr intensiv Deutsch.
Maria Nikonova hat sich entschlossen, kein introvertiertes, in Erinnerungen an die Heimat versunkenes Dasein zu führen. Sondern sie will mit ihrem Buch andere Menschen ansprechen. Überraschend war für mich zunächst, dass die Autorin weniger ihre Landsleute im Fokus hat. Deshalb wird das Buch auch nicht auf Ukrainisch veröffentlicht. Sie konzentriere sich auf ein ausländisches Publikum. Das Buch sei auch weniger mit ihrer Fluchterfahrung verknüpft. Sondern es richte sich auf Verantwortung und die Wahl von Entscheidungen, die alle Menschen in ihrem Leben treffen müssen. Ihr eigenes Leben sei lediglich ein Beispiel dafür.
Dabei ist sie überzeugt, dass jeder Mensch sein Leben selbst in die Hand nehmen kann und ganz bewusst entscheiden muss. Maria Nikonova möchte in ihrem Buch eine Ratgeberrolle für Menschen einnehmen, die sich, egal aus welchem Grund, als Opfer fühlen. Um die Allgemeingültigkeit zu unterstreichen, möchte sie ihr Buch zunächst nur in englischer Sprache herausbringen.
Maria Nikonova, die aus einer angesehen Musikerfamilie stammt, hat in der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw ein Studium der Musikwissenschaften absolviert. Dann folgte der russische Überfall auf ihr Land. Sie floh gemeinsam mit ihrer Oma nach Hannover. Dort lebt die beste Freundin der Mutter, auch Musikerin. Der Kontakt eröffnete ihr eine Beschäftigung als Dozentin bei der Bildungseinrichtung „Musikland Niedersachsen“.
Aber sie hat in Hannover erkannt, dass nicht die Musik ihre Mission ist, sondern die Unterstützung für Menschen, die sich vom Opfersyndrom befreien wollen. Sich als Opfer zu fühlen, hat dabei eine historische Tiefe, ist in die Seelen der Ukrainer eingebrannt. „Das resultiert aus unserer Geschichte, historischen Kriegen, dem Kampf um Eigenständigkeit als Nation. Dies alles manifestiert sich in unserer Hymne, die voller Melancholie ist“, sagt die Autorin.
Ihre ersten Erlebnisse in ihrer Wahlheimat, das Zurechtkommen in einer fremden Gesellschaft mit fremder Sprache, das Managen ihres Lebens und des Lebens ihrer 67-jährigen Oma, die nur Russisch spricht und eigentlich auch nicht flüchten wollte. Was für sie schwer wiegt. Ihre Jugendfreunde Taija und Anton blieben zurück. Viele Stunden, viele Tage quälende Ungewissheit über das Schicksal der Freunde, die als Armeeangehörige für die Freiheit der Ukraine kämpfen.
Dieser große Berg an Aufgaben und Anspannungen wurde für sie durch ihren Beruf als Musikwissenschaftlerin etwas erleichtert. Durch Musikerkontakte konnte sie eine Tätigkeit als Coach von ukrainischen Musikern aufnehmen. Sicher ein Schritt, um zunächst anzukommen. Doch schon zu dieser Zeit reiften Gedanken, ihr Leben zu verändern. Das Klavierspielen wurde immer weniger, das Leihklavier ist dieser Tage aus der Wohnung abgeholt worden. Ein deutliches Zeichen für ihre Neuorientierung in einem neuen Land: „Ich habe mich schon früher sehr für Themen aus der Psychologie interessiert.“ Das vertieft sie jetzt. Sie liest sehr viel und schaut zur Information YouTube-Videos.
Mit ihrem Buchprojekt möchte sie nun bald fertig sein. Für die Übersetzung und den Druck in geringer Auflage muss sie Mittel einwerben, also einen Marketingplan erstellen. Aber auch daran arbeitet Maria Nikonova schon.
Der Journalist Holger Bahl, Vorstandsmitglied im Presse Club Hannover, führte das Interview mit Maria Nikonova im Dezember 2023.